ISBN 978-3-936049-66-4 
                    392 Seiten 
                    24,50 € 
                    
                    
     | 
                  Michel 
                    Ragon  
                    Das Gedächtnis der Besiegten 
                    Historischer Roman, übersetzt von Michael Halfbrodt 
                   
                  "Das Gedächtnis der Besiegen", 
                    im Original 1990 erschienen, ist ein Historienroman, der vesucht, 
                    die politische Geschichte des 20. Jahrhunderts in ein großes, 
                    erzählerisches Panorama zu fassen. Über die Biographie 
                    einer fiktiven Hauptfigur (die gleichwohl eine Synthese verschiedener 
                    realer Lebensläufe darstellt) werden die wichtigsten 
                    Etappen und Wendepunkte dieses Zeitalters miteinander verknüpft 
                    und aus anarchistischer Sicht geschilkdert. 
                    Der "Held", Fred Barthélemy, wächst 
                    am Vorabend des ersten Weltkrieges im Pariser Anarchistenmilieu 
                    auf, gelangt während des Krieges als Mitglied einer französischen 
                    Militärmission nach Russland, wird Beobachter und Beteiligter 
                    der revolutionären Ereignisse und Machtkämpfe, kehrt 
                    desillusioniert in das Frankreich der Zwischenkriegszeit zurück, 
                    arbeitet als Schlosser bei Renault, macht sich einen Namen 
                    als politischer Publizist, nimmt am spanischen Bürgerkrieg 
                    teil, verbringt den zweiten Weltkrieges als Antimilitarist 
                    in Haft und gehört schließlich in den Nachkriegsjahren 
                    zu den Vergessenen, die erst in Zeiten eines erneuten politischen 
                    Aufbruchs (Mai 68) wieder ins Rampenlicht getreten sind. 
                    Der Verfasser, Michel Ragon (Jahrgang 1924), war in Frankreich 
                    bereits als Kunst- und Architekturkritiker bekannt, bevor 
                    er anfang der 1980er Jahre auch als Romancier den Durchbruch 
                    schaffte. Als Kunstkritiker ein Verfechter der Avantgard, 
                    geht Ragon in seinem literarischen Werk einem anderen Weg. 
                    In seinem oft mit autobiographischen Bezügen versehenen 
                    Geschichtsromanen knüpft er an die Tradition des reralistisch-naturalistischen 
                    Erzählens an und ziehlt darauf ab, mit klar strukturierten 
                    Geschichten ein Massenpublikum zu erreichen. 
                    Wie in seinem bekanntesten Roman "Die roten Tücher 
                    von Cholet" (dtv), der dem Massenmord an der aufständischen 
                    Bevölkerung der Vendée (Provinz in Westfrankreich) 
                    während der französischen Revolution thematisiert, 
                    geht es Ragon auch in "Das Gedächtnis der Besiegen" 
                    darum, die aus der offiziellen Geschichtsschreibung verbannten 
                    Kämpfe vergessener und besiegter Sozialbewegungen wieder 
                    ins Gedächtnis zu rufen. 
                  Leseprobe in der graswurzelrevolution 
                    Erinnerungen eines Unbesiegten. Gespräch mit dem libertären 
                    Schriftsteller Michel Ragon mehr 
                    ... 
                     
                    Rezensionen 
                  Oliver Steinke: "Das Gedächtnis der 
                    Besiegten" in: Gegenwind mehr ... 
                    Ralf Burnicki: "Das Gedächtnis der Besiegten" 
                    in: Die Brücke Nr. 144, April 2007 mehr 
                    ... 
                    Sal Macis: "Grandioser Roman gegen das Vergessen" 
                    in: graswurzelrevolution Nr. 317 - März 2007 mehr 
                    ... 
                    Steffan Mozza: "Geschichte wiederholt sich" in: 
                    Zwischenberichte minus2 - September 2006 mehr 
                    ... 
                  Oliver Steinke: 
                    Das Gedächtnis der Besiegten 
                    Dieser biographische Roman über die Entwicklung der revolutionären 
                    Strömungen im 20. Jahrhunderts füllt eine Lücke 
                    im deutschsprachigen Raum, die der Faschismus gerissen hat, 
                    und die seitdem nie mehr ganz geschlossen wurde. 
                    Das Straßenkind Fred Barthélemy, geboren 1899, 
                    gerät bereits vor dem ersten Weltkrieg durch Zufall in 
                    anarchistische Kreise, als er mit seiner Jugendliebe Flora 
                    durch die Gassen Paris zieht. 
                    Der erste Weltkrieg reißt ihn von Flora und den gemeinsamen 
                    Sohn der blutjungen Eltern, Germinal, weg, hinein in das Gemetzel 
                    der Schützengräben. Weil er russisch spricht, wird 
                    Fred für eine französische Militärdelegation 
                    ausgesucht, die im revolutionären Russland die Lage sondieren 
                    soll. So beginnt der erstaunlichste Abschnitt im Werdegang 
                    Barthélemys, der ihn, als er als noch einfacher Soldat 
                    die französische Delegation verlässt, an die Seite 
                    von Lenin, Sinowjew und Trotzki führt. Es werden hierzulande 
                    völlig unbekannte Eindrücke geschildert wie die, 
                    dass die Revolution im Oktober 1917 fast im „Alkohol 
                    ersoffen wäre.“  
                    „ … der Alkohol wurde zu einem reißenden 
                    Strom, selbst die Roten Garden wurden von dieser Orgie mitgerissen. 
                    Ganze Panzerbrigaden kamen zum Einsatz, um die Menge zu zerstreuen. 
                    Sie bahnten sich ihren Weg durch die Menschenmasse, zertrümmerten 
                    einige überdimensionale Champagnerflaschen, und am Ende 
                    begannen die Panzer im Zickzack zu fahren, durch die Wände 
                    der Weinkellereien zu brechen und in geschlossene Kneipen 
                    zu rasen. Feuerwehrmannschaften, die den Auftrag hatten, die 
                    Keller unter Wasser zu setzen, betranken sich ihrerseits….“ 
                    Noch glaubt der frühere Anarchist Barthélemy an 
                    die russische Revolution, deren Agenten der frischgebackene 
                    Komintern Mitarbeiter bald nach Frankreich schleust. Trotzki 
                    begegnet er in dessen Panzerzug: 
                    „Trotzki hatte die Gabe, Mythen zu schaffen, vor allem 
                    natürlich seinen eigenen Mythos….Zu einer Zeit 
                    als, als die mächtige Zarenarmee auseinander fiel und 
                    sich selbst aufgab, erschien der Panzerzug als das unvergessliche 
                    Bild einer neuen Macht. Er erweckte auch alte Ängste 
                    zu neuem Leben, die vor dem unbesiegbaren, Feuer speienden 
                    Drachen, vor der Riesenschlange, all diesen der Hölle 
                    entsprungenen Monstern. Gerade als die Revolution sich bemühte, 
                    Armee und Bürokratie zu zerstören, brachte der Panzerzug 
                    dem ganzen Land eine Vorstellung von Macht zurück, die 
                    zwar flüchtiger Natur, aber umso Furcht erregender war, 
                    als sie wie aus dem Nichts auftauchte, vor Ort Entscheidungen 
                    traf und mit unbekanntem Ziel wieder verschwand.“ 
                    Mit unbekanntem Verbleib verschwinden bald auch immer mehr 
                    russische Anarchisten und andere frühere Mitstreiter 
                    der Bolschewiki, die die zunehmende Erdrosslung der Sowjets 
                    durch die Bürokratie der Partei kritisieren. Barthélemy 
                    flieht schließlich mit geheimen Dokumenten seines Chefs 
                    Sinowjews in den Westen. Dort schenkt ihm kaum jemand Glauben, 
                    nicht einmal Gehör, als er die erste Kritik eines Libertären 
                    an der Russischen Revolution herausbringt: „Saturn verschlingt 
                    seine Kinder“. 
                    Als abtrünniger Kominternmitarbeiter und Libertärer 
                    hat er einen schweren Stand unter seinen Arbeitskollegen bei 
                    Renault, unter denen der kommunistische Einfluss zunimmt. 
                    Die französische Politik der zwanziger und dreißiger 
                    Jahre in Paris wird verständlich, wir lernen Flüchtlinge 
                    wie den ukrainischen Bauernführer Nestor Machno oder 
                    den spanischen Anarchisten Durruti kennen. Letzteren folgen 
                    Barthélemy und sein Sohn Germinal in die Wirren des 
                    Spanischen Bürgerkriegs, ein weiteres fesselndes Kapitel 
                    des Buches, das man nicht mehr aus der Hand legen möchte. 
                    Die Übersetzung von Michael Halfbrodt ist unerhört 
                    gut, an keiner Stelle merkt man, dass der Ursprungstext übertragen 
                    wurde. Die klare, kraftvolle, zuweilen sehr feinfühlige 
                    Sprache Michel Ragons (Träger des Alexandre Dumas Preises 
                    von 1984) kommt unverfälscht zum Ausdruck. Der Verlag 
                    Edition AV hat mit dieser spannenden Biographie eines Aktivisten 
                    der beiden großen europäischen Revolutionen des 
                    20. Jahrhunderts allen an Politik und Gesellschaft Interessierten 
                    ein großartiges Geschenk gemacht.  
                  Ralf Burnicki: 
                    Das Gedächtnis der Besiegten 
                    »Schaut, Kinder«, sagte Valet. »Hier rechts 
                    stehen Romane und Gedichte. Links Soziales und Politik. Auf 
                    der einen Seite der Traum, auf der anderen die Aktion. Wenn 
                    ihr erst beides habt, könnt ihr die Welt erobern«. 
                    In diesem Augenblick entdeckt Fred am Vorabend des Ersten 
                    Weltkriegs in einem anarchistischen Buchladen seine Leidenschaft 
                    für das Lesen. Fred lebt in Paris als obdachloses Kind, 
                    das Unterschlupf bei AnarchistInnen findet und beginnt, sich 
                    über das Lesen für die anarchistische Utopie von 
                    Herrschaftsfreiheit und sozialer Gleichheit zu begeistern. 
                    Fred lernt also lesen, ganz gegen den Willen seiner Gefährtin 
                    Flora, die - ebenfalls noch ein Kind - ein wildes, radikal 
                    ungebundenes Leben anstrebt. Für sie ist Lesen bereits 
                    eine unangebrachte Anpassung an gesellschaftliche Vorgaben. 
                    Freds Leben im Pariser Anarchistenmilieu macht ihn zum Zeitzeugen 
                    sozialer Kämpfe gegen die autoritäre Staatsmacht, 
                    gegen den Polizeistaat, gegen Kapitalismus und soziale Ungerechtigkeit. 
                    Um selbstständiger zu werden, entschließt sich 
                    Fred zu einer Schlosserlehre. Doch kaum zu eigenständigem 
                    Denken und Handeln in der Lage, wird er mit 16 Jahren zum 
                    Militär eingezogen. Er muss Flora und seinen soeben geborenen 
                    Sohn in Paris zurücklassen, um sich im Schlachthaus des 
                    Krieges einzufinden. Da steht nun also »Fred mit seinem 
                    Militärmantel, seinen Wickelgamaschen, seiner Feldmütze«, 
                    selbst zum »Bullen« und zur Negation der Freiheit 
                    geworden. Flora sieht ihre Sichtweise in Freds Kapitulation 
                    bestätigt: Die Gesellschaft passt einfach jeden an, und 
                    sogar politischer Widerstand dient der Aufrechterhaltung von 
                    Herrschaft (S. 65 und S. 61).  
                  Weder Freiheit noch Gleichheit: Das 
                    Elend der russischen Revolution 
                  Mitten im Kriegsgemetzel erhält Fred wegen 
                    seiner Russischkenntnisse die Gelegenheit, als Teil einer 
                    französischen Militärdelegation nach Moskau zu reisen. 
                    Dort desertiert er, um an der russischen Revolution mitzuwirken. 
                    Aus der Augenzeugenperspektive Freds treffen die LeserInnen 
                    nun mit den Gestalten des russischen Parteikommunismus zusammen 
                    (Lenin, Trotzki u.a.), erleben die brutale Diktatur der Parteiführung, 
                    die Unterdrückung von Emanzipationsbestrebungen linker 
                    Sozialrevolutionäre und AnarchistInnen, sie erleben Einzel- 
                    und Kollektivschicksale (Vernichtung der Kronstädter 
                    Rätedemokratie), die verelendende Bevölkerung und 
                    niedergeschlagene Hoffnungen auf eine selbstbestimmte Gesellschaft, 
                    die in den Abgründen von pseudorevolutionärem Parteikonformismus, 
                    Geheimpolizei (Tscheka), Bürokratismus und Antisemitismus 
                    untergehen. Auch Freds neue Liebe Galina bietet seiner Enttäuschung 
                    keinen Ausgleich zu dieser Erkenntnis: Diese Revolution bietet 
                    weder Freiheit noch Gleichheit, an die Stelle erträumter 
                    Herrschaftsfreiheit tritt eine neue (Partei-)Elite und eine 
                    neue Herrschaftstechnik, die mobile Regierung, der Panzerzug 
                    Trotzkis, der wie ein Schreckgespenst allerorts auftaucht 
                    als Vorbote einer neuen überterritorialen Macht: »Es 
                    war eine Art fliegender Regierung, überall und nirgends 
                    zu finden, die, wenn sie mitten auf dem Land Halt machte, 
                    mit Maschinengewehren bestückte Automobile ausschwärmen 
                    ließ... Die Macht des Zuges schien sich auf diese Weise 
                    noch zu vergrößern. Er gebar mechanische Monster, 
                    die in der Dörfern und Ortschaften auftauchten wie die 
                    Engel der Apokalypse« (S. 82). Was sich hier ankündigt 
                    und in den nächsten Jahren abspielt, ist bloßer 
                    Terror der Bolschewiki, der das Land in Armut und Depression 
                    stürzt und die russische Revolution im rigiden Gegensatz 
                    von Utopie und Realität enden lässt. Die Parteikader 
                    werden fortan »den Staat gegen die Arbeiter und nicht 
                    die Arbeiter gegen den Staat verteidigen« (S. 145). 
                    Kurz vor der Machtübernahme Stalins gelingt es dem (zum 
                    politischen Sekretär mutierten) Fred, nach Rumänien 
                    zu fliehen. Wieder lässt er eine Gefährtin zurück 
                    und einen gemeinsamen Sohn, diesmal auf russischer Seite. 
                    Sein Sohn war einige Zeit zuvor - gegen den Willen Freds - 
                    von der Partei in eine bolschewistische Erziehungseinrichtung 
                    überführt worden. Im Gepäck trägt er eine 
                    Kopie des Testamentes von Lenin. 
                  Die Sehnsucht nach Herrschaftsfreiheit 
                  1924 zurück in Paris, findet Fred 
                    eine Schlosserstelle bei Renault. Er zieht sich ins Privatleben 
                    zurück und gründet eine Familie, stößt 
                    dann jedoch unverhofft auf den ukrainischen Bauernkämpfer 
                    Machno, den seine Flucht vor der Roten Armee nach Paris verschlagen 
                    hat. Fred schließt Freundschaft mit Durutti und macht 
                    sich einen Namen als politischer Publizist, er folgt Durutti 
                    in den spanischen Bürgerkrieg, und wieder findet sich 
                    Fred mitten im Strudel revolutionärer Strömungen. 
                    Und Flora? Nun, das ist eine weitere Geschichte, die hier 
                    nicht vorweggenommen werden soll.  
                    Der Roman »Das Gedächtnis der Besiegten« 
                    hält die Erinnerung an emanzipative und nach Herrschaftsfreiheit 
                    strebende Bewegungen im 20. Jahrhundert mit ihren Irrungen 
                    und Perspektiven aufrecht und schafft damit eine Voraussetzung 
                    für eine reflektierte Vision für die Zukunft. Störend 
                    empfinde ich den Roman, wo er mit der These in die Irre führt, 
                    Faschismus sei ein Abkömmling des Sozialismus (S. 263) 
                    sowie manche Ungereimtheit, beispielsweise Textabschnitte 
                    mit einem klischeebesetzten Frauenbild (S. 290, 351 o.) oder 
                    die extreme Unwahrscheinlichkeit, dass - so im Roman geschildert 
                    - ein Anarchist einen Rassisten unterstützt (S. 347 f.). 
                    »Das Gedächtnis der Besiegten« lässt 
                    allerdings Geschichte hautnah erleben und LeserInnen treffen 
                    auf eine spannende Mischung aus politischem Milieu- und Geschichtsroman. 
                    Fred ist dabei (so der Ragon-Übersetzer Michael Halfbrodt 
                    anlässlich einer Buchvorstellung) die »Verkörperung 
                    eines kollektiven Gedächtnisses über die sozialen 
                    Kämpfe« und in ihm versinnbildlicht sich zugleich 
                    die Tragik jener, die sich von der Revolution soziale Gleichheit 
                    versprachen, ihr Leben dafür einsetzten und bitter enttäuscht 
                    wurden. Die immer neu entstehende Herrschaft benutzte sie, 
                    drängte sie an den Rand, verfolgte sie, brachte sie in 
                    Gefängnissen um, und in einem letzten Schritt werden 
                    sie dann von der Landkarte der Geschichte gefegt: »Die 
                    Revolutionen haben, wie die Religionen, zunächst ihre 
                    Helden und Märtyrer. Dann kommen die Bürokraten 
                    und der Klerus. Die linken Sozialrevolutionäre weigerten 
                    sich beharrlich, sich zu bürokratisieren, sie lehnten 
                    es ab, aus der Revolution eine Kirche zu machen. Sie verurteilten 
                    sich folglich selbst dazu, in jenem berüchtigten „Mülleimer 
                    der Geschichte“ zu verrotten, den Trotzki allen seinen 
                    Widersachern so großzügig anempfahl« (S. 
                    166). Das Gedächtnis aber zu bewahren und die Vision 
                    von Selbstbestimmung und sozialer Gleichheit nicht aus den 
                    Augen zu verlieren, dies scheint das Hauptanliegen des Romans, 
                    der spannend und flüssig geschrieben ist und Handlungsstränge 
                    angemessen bündelt. Letzteres ist bemerkenswert angesichts 
                    der Vielzahl von Persönlichkeiten, die namentlich genannt 
                    und deren politische Absichten und interne Beziehungen aufgeblättert 
                    werden. Diese Detailvielfalt zu erfassen, ohne den Spannungsbogen 
                    auszuleiern, dies kann als schriftstellerische Leistung Ragons 
                    angesehen werden, dessen Roman uns Revolutionen aufschließt 
                    wie eine verborgene Tür.  
                   
                    Sal Macis: Grandioser Roman gegen 
                    das Vergessen 
                    (...) Es ist dem Verlag, dem Übersetzer Michael Halfbrodt 
                    und den Spendern für den Ankauf der Rechte zu danken, 
                    dass sie dieses Riesenprojekt in die Praxis umsetzen konnten. 
                    Denn Das Gedächtnis der Besiegten ist ein großartiger 
                    Geschichtsroman, in dem eine fiktive Figur, Fred Barthélemy, 
                    alle großen Ereignisse des 20. Jahrhunderts aus Sicht 
                    eines französischen Anarchisten durchlebt: die Zeit des 
                    libertären Pariser Milieus vor dem Ersten Weltkrieg, 
                    die russische Revolution, das pazifistisch-anarchistische 
                    Milieu der Zwischenkriegsjahre, die spanische Revolution und 
                    die Nachkriegszeit in Paris. Beim Lesen musste ich mir immer 
                    wieder klar machen, dass es sich um Fiktion handelt, so hautnah 
                    und eindringlich sind die Szenen beschrieben. Um Fred tauchen 
                    reale historische Personen auf, Lenin, Trotzki, Emma Goldman, 
                    Maria Spiridonowa, Alexandra Kollontai, Nestor Machno, Buenaventura 
                    Durruti, Louis Lecoin, Paul & Léona Delesalle, 
                    Victor Serge, Rirette Maîtrejean. Fred tritt mit ihnen 
                    in Kontakt, bespricht mit ihnen die Lage, geht Freundschaften 
                    ein und beschreibt sie von einer nahen, menschlichen Seite. 
                     
                    Das Buch erzählt eine Innenansicht der Gefühle libertärer 
                    Besiegter des 20. Jahrhunderts und bewahrt so deren Andenken, 
                    für das sich die herrschende Geschichtsschreibung nicht 
                    interessiert, denn die erzählt nur von heldenhaften Siegern. 
                    Besonders beeindruckend ist etwa die Beschreibung des exilierten 
                    Nestor Machno im Pariser Exil der 20er und 30er Jahre, der 
                    sich nicht zurecht findet, den Anschluss ans libertäre 
                    Milieu verliert, vereinsamt und sich schließlich gar 
                    in die Möglichkeit eines Bündnisses mit Stalins 
                    Militärs versteigt, um mit diesen stärkeren Bataillonen 
                    Trotzki, Machnos erklärten Hauptfeind, endlich zu besiegen. 
                    Die Figur Fred ist zwar fiktiv, Ragon hat sich dabei aber 
                    an biographischen Erfahrungen aus dem Leben von Gaston Leval 
                    für Russland und Spanien und von Henri Poulaille für 
                    Kindheit und Alter orientiert. Fred ist in gewissem Sinne 
                    eine paradigmatische Figur für die eigentümliche 
                    französische Sicht auf die Revolutionen in Russland und 
                    Spanien. Viele französische AnarchistInnen der Vorkriegszeit, 
                    so auch Victor Serge, ließen sich von Lenins „Staat 
                    und Revolution“ täuschen, und traten nach 1918 
                    der KP und der Kommunistischen Internationale bei.  
                    Auch Fred geht nach Russland und wird dort Ideiny, zählt 
                    also zu jener libertären Fraktion, die zunächst 
                    mit den Bolschewiki kollaboriert. Erst langsam, in einem schmerzhaften 
                    Prozess und beim Erleben der AnarchistInnenverfolgungen wird 
                    ihm klar, dass er sich geirrt hat und verfasst nach seiner 
                    Rückkehr Mitte der zwanziger Jahre in Paris ein Manifest 
                    gegen die russische Diktatur des Proletariats.  
                    Doch die französische Linke, auch das ist eine Essenz 
                    der historischen Erfahrungen im Frankreich der 20er und 30er 
                    Jahre, will davon nichts wissen und lehnt sich mehrheitlich 
                    an die stalinistische KP an. So verhallen die Warnungen von 
                    Fred im Nichts und in der spanischen Revolution werden die 
                    AnarchistInnen und unabhängigen SozialistInnen ein weiteres 
                    Mal von den KommunistInnen verraten und verfolgt. Das ist 
                    die Lebenserfahrung vieler älterer AnarchistInnen Frankreichs 
                    und Spaniens, die deshalb mit den jungen 
                    68er StudentInnen, die Marxismus und Anarchismus versöhnen 
                    wollten, nichts anfangen konnten. Das Buch ist gleichzeitig 
                    ein flammender Aufruf für Kontaktaufnahme und Gespräche 
                    mit AltanarchistInnen, auch für Archivarbeit, damit deren 
                    Erfahrungen nicht verloren gehen. 
                    Ragon ist es hoch anzurechnen, dass er in diesem Riesenwerk 
                    immer wieder vergessene Nebenlinien und Minderheitenströmungen 
                    beschreibt, wie etwa die libertär-christliche Gruppe 
                    um Nikolaj Berdjajew in Russland, deren Anhänger Fred 
                    im Pariser Exil wiedertrifft.  
                    Ragon erzählt sensibel von der großen Verbreitung 
                    pazifistischer Tendenzen im anarchistischen französischen 
                    Milieu der Zwischenkriegsjahre, die auf die Erfahrungen des 
                    massenhaften Mordens im Ersten Weltkriegs zurückgehen. 
                     
                    Es wird im Roman deutlich, welch immense Bedeutung Louis Lecoin 
                    für die Entwicklung des französischen Anarchismus 
                    von den 20er bis in die 60er Jahre hatte. Doch es war auch 
                    ein Pazifismus, dem die Kampfmittel der massenhaften direkten 
                    gewaltfreien Aktion unbekannt blieben und der deshalb immer 
                    wieder darauf zurückgriff, sich mit Appellen an die Herrschenden 
                    zu wenden. 
                    Im Detail finde ich einzelne Personen zu positiv dargestellt, 
                    etwa Alexandra Kollontai, die Fred geradezu bewundert. Ragon 
                    verschweigt dabei ihre Mittäterinnenschaft bei der Niederschlagung 
                    des Kronstädter Aufstands 1921 oder die Taten ihres Ehemanns 
                    Dybenko, der als Befehlshaber der Roten Armee an der Unterdrückung 
                    der Machno-Bewegung beteiligt war.  
                    Auch bei der Beschreibung der Stalinismuskritik im französischen 
                    Milieu der dreißiger Jahre gibt es eine große 
                    Abwesende, Simone Weil, die ich gerne im Roman gesehen hätte. 
                    Doch das Buch ist so reichhaltig an kurzweiligen Erzählungen 
                    über Vorkommnisse und Personen - auch kritischer Art, 
                    wie etwa über Romain Rolland, dessen Übergang von 
                    Gandhi zu Lenin und sogar zum Stalinismus in den dreißiger 
                    Jahren alle Libertären vor den Kopf stieß -, dass 
                    diese kleinen und subjektiven Einwände dem Eindruck keinen 
                    Abbruch tun, dass es sich hier um ein wundervolles Buch handelt, 
                    um eine andere Art, sich anarchistische Geschichte vorstellbar 
                    zu machen.  
                  Steffan Mozza: 
                    Geschichte wiederholt sich 
                    Als ich Ende der 1990er Jahre die Schnauze voll hatte vom 
                    Politzirkus, widerholte ich im Kleinen, was Fred, dem Protagonisten 
                    des Buches "Das Gedächtnis der Besiegten", 
                    im Grossen widerfuhr: Er war dabei. Dabei in Paris der Bonnot-Bande, 
                    dabei am Ende der russischen Revolution, dabei im Kreml während 
                    der Bürokratisierung und den Liquidationen. Fred lebte 
                    die Brüche: Syndikalismus, Trotzkismus, Komintern,freie 
                    Liebe. Spanien rief zu den Waffen, die nebst Mexiko auch Russland 
                    lieferte. Letztere schickten als Zugabe Politkommissare, die 
                    verschwinden liessen, um anschließend selbser mit Genickschuss 
                    zu enden. Algerien rief zu den Waffen. Da hatte Fred begriffen 
                    und propagierte Kriegsdienstverweigerung. 
                    Ich habe häufig geflucht, das es kein Buch gibt, das 
                    die Erfahrungen aus Rebellion und Revolution des 20. Jahrhunderts 
                    vor 1968 zusammengefasst. Wir wiederholten, was andere schon 
                    viel besser verbockten. Erst anschließend, beim kritischen 
                    Hinterfragen, kam die Entdeckung der Parallelen zu den früheren 
                    Kämpfen. Viele marschierten in die Institutionen und 
                    glaubten sich auf dem Weg der Befreiung. Erstzunehmende Kritik 
                    an "1968" (bis zu den Autonomen) setzt hier an. 
                    "Kein Zweifel, die Macht, und zwar jede Macht, liess 
                    die grössten Idealisten zu Robotern mutieren." Doch 
                    wer mit dem Finger auf andere zeigt, sollte die drei in die 
                    eigene Richtung nie vergessen. In anderen Worten: "Wisst 
                    ihr eigentlich, dass ihr gar nicht lustig seid, mit eurer 
                    Tugendmasche." 
                    Dieser Roman ist ein guter Einstieg in die vergleichende Krawallkunde. 
                    Es ist locker lesbar und eingängig geschrieben. Mit diesem 
                    Buch könnte sich etwas ändern. Bis dahin gilt: "Ihr 
                    könnt mich mal." 
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