ISBN 978-3-86841-051-8
190 Seiten
16 €

 

Mathieu Houle-Courcelles
Auf den Spuren des Anarchismus in Quebec (1860-1960)

Übersetzt von Fred Kautz


Das Buch vermittelt ein lebendiges und ergiebiges Bild vom Einfluss anarchistischer Ideen in der Geschichte Quebecs. Zum Vorschein tritt eine Denkströmung, die bereits lange vor den politischen und kulturellen Umwälzungen von 1968 im Umlauf war. Mathieu Houle-Coucelles lässt exilierte Kommunarden, Maler und Dichter der Künstlergruppe „Les Automatistes“, Antiklerikale der Arbeiter-Universität, jüdische Aktivisten aus Montreals „Jiddland“ vorbeiziehen. Dabei schildert er die Ereignisse plastisch und haucht den verschiedenartigen Protagonisten neues Leben ein. All das ist ein wichtiger Beitrag zur fortdauernden Debatte über das kollektive Gedächtnis von Französisch-Kanada.

Der Autor engagiert sich im Comité populaire Saint-Jean-Baptiste in Quebec City. Diese Bürgerinitiative steht in Opposition zur Gentirfizierung des genannten Stadtteils, bekämpft dort Armut und plädiert dabei u.a. für den Bau von mehr Sozialwohnungen.

"Anarchismus und Gentrifizierung in Québec". Interview mit Mathieu Houle-Courcelles vom Radio Darmstadt als Podcast und Sendemanuskript.

Rezension:

Martin Veith: Gelungene Spurensuche (erschienen in barrikade sieben - April 2012)
Mathieu Houle-Courcelles Buch zum Anarchismus im kanadischen Quebec macht Geschichte von unten und ihre Akteure lebendig.
Forschungen zur lokal-geschichtlichen Historie können über das reine Darstellen geschichtlicher Fakten hinaus Erfahrungen vermitteln und Motivation und Inspiration für heutige Auseinandersetzungen und Entwicklungen frei setzen. Mit seinem Buch „Auf den Spuren des Anarchismus in Quebec (1860-1960)“ ist dies dem Autoren und Genossen Mathieu Houle-Courcelles gelungen. 1999 begann er mit der Forschung zur Geschichte der anarchistischen Bewegung in der französischsprachigen Provinz Quebec. Die Ausgangslage war sehr dürftig. Vieles war nicht bekannt bzw. wurde von Historikern konkurrierender sozialistischer Strömungen nicht beachtet, von der offiziellen bürgerlichen Geschichtsschreibung gar nicht erst zu sprechen. Quebec war eine der reaktionärsten klerikal-katholischen Ecken Kanadas. Es waren vor der französischen Revolution geflohene erz-reaktionäre katholische Priester die Quebec ihren Stempel aufdrückten. Sie übten die Macht aus und verdammten freiheitliche Gedanken, Aufklärung und das Eintreten für bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen gegen die „gottgewollte Ordnung“. Sie trafen sich dabei mit den Interessen von Kapitalisten, bürgerlichen Politikern und Regierung. Denn als die Arbeiterbewegung aufkam, Klassenbewusstsein entwickelte und die Ausbeutung und Besitzverhältnisse nicht nur in Frage stellte sondern in Form von gewerkschaftlicher Selbstorganisation und Streiks herausforderte erkannten diese Kräfte die potentielle Gefahr für ihre eigene Macht. Mathieu Houle-Courcelles beschreibt in den verschiedenen Kapiteln des Buches in chronologischer Abfolge anschaulich die ersten Organisierungsbemühungen und Erfolge der Arbeiter, oftmals angeführt von Anarchisten, Syndikalisten und radikalen Humanisten wie z.B. Arthur Buies (1840-1901) in den 1860er Jahren bis hin zur Emigration einer Gruppe spanischer Anarchosyndikalisten der CNT, die in Revolution und Bürgerkrieg von 1936 gekämpft hatten und sich schließlich 1953 in Quebec niederließen.
Einen zeitweiligen Höhepunkt erreichte die anarchistische Bewegung in Quebec mit der Zuwanderung jüdischer Arbeiterfamilien aus Osteuropa, die auf der Flucht vor antisemitischen Gesetzen und Pogromen zu Ende des 19. Jahrhunderts auf den amerikanischen Kontinent kamen. Unter ihnen befand sich der aus der Bukowina stammende Anarchist Hirsch Hershmann (1876-1955), der 1903 in Montreal schließlich die erste Anarchistische Buchhandlung eröffnete und die Zeitung „Der Telegrapher“ in jiddischer Sprache herausgab. Als „wichtigstes Organ jüdischer Anarchisten in Nordamerika“ wurde aber die „Di Fraye Arbayter Shtime“ (Die Freie Arbeiterstimme) aus New York vertrieben. Besonders unter den Textilarbeitern spielten diese jüdischen Arbeiteranarchisten eine aktive Rolle und führten erfolgreiche Streiks. Diese klassenbewussten Arbeiter waren dann auch diejenigen, welche die erste Demonstration zum 1. Mai in der Geschichte Montreals im Jahr 1906 initiierten.  Die sprachlichen Probleme zwischen den migrierten Arbeitern und der einheimischen (Arbeiter)-Bevölkerung konnten bei solchen Gelegenheiten überwunden werden und führten zu einer gemeinsamen Aktion aller Lohnabhängigen. Und 1905 gründete sich in Montreal eine kämpferische Gewerkschaft der Industrial Workers of the World (IWW), die, wie Mathieu Houle-Courcelles detailliert darlegt, nicht nur von den Kapitalisten erbittert bekämpft wurde, sondern ebenso von der reformistischen Mehrheitsgewerkschaften AFL, in welcher zudem Sozialisten aktiv waren, die dem Syndikalismus ablehnend gegenüberstanden sowie katholischer klassenkampffeindlicher Gewerkschaften. Diesen gelang es die IWW zu marginalisieren.
Das Buch zieht den schwarzen bzw. schwarz-roten Faden bis in die 1960er Jahre fort und es ist schwer möglich alle relevanten Ereignisse an dieser Stelle aufzuführen. Stichpunkte sind der Generalstreik von 1912, die mehrmaligen öffentlichen Auftritte von Emma Goldmann und Rudolf Rocker in Montreal, der Widerstand gegen die Einführung der Wehrpflicht, die Streiks der Fischer und der Besuch des französischen Anarchisten Daniel Guerin in den 1950er Jahren. Hervorgehoben werden muss aber noch die 1925 erfolgte Gründung der Arbeiteruniversität, der „Universite Ouvriere“, einer von klassenbewussten Arbeitern selbst-organisierten Institution. Mit dieser wurde Aufklärung und Zugang zu Wissen für Arbeiterinnen und Arbeiter auf ein starkes Fundament gestellt. Die katholische Geistlichkeit wetterte gegen sie, die dortigen aufklärerischen Thesen und herausgegebenen Schriften und Mitglieder der katholischen Jugendorganisation überfielen das Gebäude und zerstörten Einrichtungsgegenstände.
Das Buch liest man in einem Zug durch. Es ist ausgesprochen Faktenreich, gut geschrieben und veranschaulicht die alltäglichen Probleme und Kämpfe; es macht die Akteure des sozialen Kampfes lebendig. Langatmig fand ich nur die Beschreibungen der Künstlergruppe der „Automatisten“ – aber das ist  sicherlich Geschmackssache.
Zu Wünschen ist, das der Autor nachlegt. Die interessante Geschichte des Anarchismus in Quebec endet nicht 1960 sondern reicht bis zum heutigen Tag und geht weiter. Wie er in seiner Schlussbetrachtung ausführt, hat der Anarchismus in Quebec in den „letzten zehn Jahren einen beispiellosen Aufschwung erlebt und auf diverse soziale Bewegungen eingewirkt.“ Die letzten 50 Jahre warten also ebenfalls auf ihre Erforschung und Darstellung.
Diese Forschung wird vom bürgerlich-kapitalistischen Wissenschaftsbetrieb in Kanada übrigens kaum beachtet und kritisch beäugt. Obwohl die Quellen, die der Autor für seine Arbeit benutzte, gut belegt und dokumentiert sind, zählen sie dort offenbar nicht als Fakten, weil der Autor kein „studierter“ Historiker ist.  Was soll man aber auch anderes aus diesen Kreisen erwarten? Fest steht: Ohne ihn hätte wohl niemals die Erforschung des Anarchismus in Quebec stattgefunden. Denn; und das ist eine der Schlussfolgerungen nach dem Lesen des Buches; der Anarchismus wurde vom ersten Auftreten bis zum heutigen Tag entweder verschwiegen oder verleumdet und immer bekämpft. Mathieu Houle-Courcelles Schlusswort ist deshalb auch ein klarer Standpunkt: „Die Libertären können sich nur auf sich selbst verlassen, wenn sie die Geschichte ihrer Bewegung entdecken und erzählen wollen.“

 

 

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