ISBN 978-3-936049-79-5
300 Seiten
inkl. einer DVD
18€

 

Stefan Gurtner
Die Straßenkinder von Tres Soles
Von zerstörten Kindheiten, Selbstorganisation und
einem Theater der Unterdrückten in Bolivien


Seit zwanzig Jahren besteht in Bolivien die vom Autoren gegründete Wohngemeinschaft „Tres Soles“; für sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche. Dieses Buch versucht, anhand von Einzelschicksalen und Anekdoten „manche spannender als Romanstorys“ ihre Entstehungsgeschichte darzustellen. Ebenso spannend ist ohne Zweifel die geschilderte Suche nach neuen, erzieherischen Wegen, in einem Land, wo nach jahrhundertalter Unterdrückung durch die spanischen Kolonialherren und langen Militärdiktaturen noch immer äußerst autoritäre Gesellschaftsstrukturen herrschen, sowohl in den Familien, in den Schulen als auch in den Firmen. Außerdem ist von der weißen Minderheit ein Apartheid-Staat geschaffen worden, der die großen indianischen Mehrheiten praktisch von allen Entschei-dungen ausgeschlossen hat und der erst vor Kurzem durch die Wahl des ersten indigenen Präsidenten, Evo Morales, in Frage gestellt worden ist. Man kann sich natürlich vorstellen, dass diese Suche in einem solchen Umfeld sehr schwierig ist und auf viele, teilweise heftige Widerstände stößt. Auch ist die Verführung groß, wieder in - diesmal moderne-kolonialistische oder übermäßig traditionelle Verhaltensweisen der Urbevölkerung zu verfallen. Das Resultat ist ein faszinierende, manchmal auch heikle Mischung aus indianischen Gemeinschafts- und Selbstverwaltungsmustern und westlichen Erziehungsmethoden, vor allem Spiel und Theater, mit denen versucht wird, den Kindern und Jugendlichen ein neues Bewusstsein und ein kritisches Denkvermögen zu ermöglichen. Auf alle Fälle ist die Arbeit mit solchen Jugendlichen immer problematisch, und so manch einer kommt mit einem blauen Auge davon, nicht nur im körperlichen Sinn; aber das mag der Leser bei der Lektüre selbst erfahren.

Die Homepage des Wohngemeinschaftprojektes ist unter www.tres-soles.de zu finden ist.

Rezension

gbp: Wie Straßenkinder lernen, auf eigenen Beinen zu stehen; erschienen in: Giessener Allgemeine vom 15.01.2008
Der 44-jährige Gurtner hat mit »Die Straßenkinder von Tres Soles« in dem Licher Verlag Edition AV bereits sein drittes Buch veröffentlicht.
Am Samstag las der 44-jährige Vater von zwei Töchtern in der »Traumstern«-Gaststätte »Savanne« aus seinem Buch über die Entstehungsgeschiente der Straßenkinder-WG. Andreas W. Hohmann vom Verlag Edition AV, der den Autor stolz als »guten Griff« für den Licher Verlag bezeichnete, begrüßte rund 20 Gäste, die viele inte¬ressierte Fragen an den Autor stellten.
Zur Einführung war eine von den »Tres-Soles«-Bewohnern selbst erstellte DVD zu sehen, die dem Buch beiliegt und die einen Einblick gibt in den Alltag der derzeit 25 Jungen und Mäd¬chen, der bolivianischen Mitarbeiter in der Wohngemeinschaft und fünf Jugendlichen, die bereits in eigenen Mietwohnungen leben. Hausarbeiten, Schule, Arbeit in den Werkstätten und im Garten, Theater, Kunst und Musik strukturieren den arbeitsreichen Tag der Kinder und Jugendlichen. Selbstorganisation, -verwaltung und -verantwortung sind die Maxime, konfliktorientierte Erziehung soll die Kinder befähigen, ihre Probleme anzugehen. »Nicht derjenige ist der Glücklichste, der die meisten glücklichen Momente in seinem Leben hat, sondern derjenige, der gelernt hat, am besten seine Probleme zu lösen«, zitiert Gurtner den Pädagogen Franz, der die Anfänge von »Tres Soles« begleitete. »Wenn wir also den Jugendlichen beibringen ihre Probleme selbst zulösen tragen wir zu ihrem künftigen Glück bei - auch wenn sie dabei am Anfang Fehler machen.«
Gurtners Intention, mit Kindern und Jugendlichen zu leben und arbeiten, die aus einem äußerst schwierigem Umfeld stammen, stieß auch auf Pessimismus: »Bei vielen ist das Elend so weit fortgeschritten, dass man nur noch lindern kann«, habe ihn ein Pfarrer gewarnt, erzählt Gurtner in seinem Buch. »Fix und fertig« seien sie, hoffnungslos. Wie problematisch Selbstverwaltung; sein kann , die auch das eigenständige Verhängen von Strafen einschließt, illustriert die Geschichte der beiden WG-Neulinge Rüben und »Choco", so genannte »claferos« (Klebstoffschnüffler), die von ihrer Droge nicht lassen konnten und dafür von einem Gericht aus Mitbewohnern mit jenen martialischen Strafen bedacht wurden, die sie in Erziehungsheimen kennengelernt hatten: Schläge und Übergießen mit eiskaltem Wasser schwer dabei zuzusehen und das Prinzip »Nichteinmischung« aufrechtzuerhalten.
Wesentliches Erziehungsmittel in »Tres Soles« ist das Theaterspielen. »Theater ist sehr reich an erzieherischen Inhalten«, so Gurtner. In seinem Buch erzählt er eine Anekdote über die Namensfindung der Theatergruppe »Ojo Morado« (Blaues Auge), als zwei Hauptdarsteller nach einer Auseinandersetzung tatsächlich mit je einem blauen Auge auf der Bühne standen. Eindrucksvoll und symptomatisch ist auch die Geschichte der Inszenierung des Klassikers »Der kleine Prinz«, mit der die Gruppe ein nationales Theaterfestival gewann. Nach eigener Interpretation der jungen Schauspieler wohnt der kleine Prinz in den Elendsvierteln der bolivianischen Stadt El Alto, wie auf einem »anderen Planeten« - eine Adaption, die authentischen Erfahrungen der Straßenkinder entspringt: Im Zuge der Landflucht strömen Tausende in die großen Städte, wo es auch keine Arbeit für sie gibt, soziale Bräuche und Sitten zerbrechen. Sie werden buchstäblich von der Stadt verschlungen - und die Kinder finden sich plötzlich auf der Straße wieder. »Wir sind kein Therapiezentrum, sondern verstehen uns als Bildungsprojekt.«, erklärt Gurtner auf zahlreiche Fragen aus dem Publikum, darunter auch die Bolivianerin Martha Pardo de Salger, die seit 2005 im hessischen Rodgau lebt. »Es gibt kein Alterslimit, keine verschlossenen Türen. Die Kinder und Jugendlichen werden vom Jugendamt zu Tres Soles geschickt, wenn sie freiwillig etwas für ihre Zukunft tun wollen.« Gurtner bezeichnet die Arbeit als erfolgreich, wenn die »Tres-Soles«-Bewohner in der Lage sind, sich in einem für bolivianische Verhältnisse durchschnittlichen Leben zurechtzufinden". Das sei bei über der Hälfte der Fall. Viele absolvierten eine Berufsausbildung oder ein Studium. »Einer unserer Bewohner ist heute Psychologe, einer Sportlehrer, einer Musiklehrer, und - was uns besonders freut - zwei sind Profischauspieler.«

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